Datum
20.04.1972Medium
Der TelegrafAusgabe
0Seite
16AutorIn
nicht benanntViel Wirbel um Razzia im "Georg von Rauch-Haus"
Sprengstoff beschlagnahmt - Ilse Reichel: "Nichts pauschalieren"
Während einer Großrazzia im Zusammenhang mit verschiedenen Sprengstoffanschlägen der letzten Zeit durchsuchten in der Nacht zu gestern rund 400 Beamte der Schutzund Kriminalpolizei das ehemalige Bethanienkrankenhaus in Kreuzberg.
Das Martha-Maria-Haus, von den Jugendlichen in "Georg v. Rauch-Haus umbenannt, des seit längerer Zeit leerstehenden Bethanien-Komplexes war Ende vergangenen Jahres von Jugendlichen "besetzt" worden, um dort eine sogenannte "Basisgruppe Kreuzberg Heim- und Lehrlingsarbeit" zu etablieren.
Bei der Razzia sind nach einer abschließenden Pressemitteilung der 'Abteilung Eins, die in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft herausgegeben wurde, 66 Männer und Frauen kontrolliert worden. 28 wurden vorläufig festgenommen und bis auf fünf in den gestrigen Vormittagsstunden wieder entlassen.
Aussage verweigert
Von den fünf Personen, darunter zwei Frauen, die sich noch in Polizeihaft befinden, sind drei dringend verdächtigt, sich an Sprengstoffverbrechen beteiligt zu haben. Sie verweigerten bisher die Aussage. Außerdem lag gegen sie ein Haftbefehl wegen Einbruchs vor.
Die Polizei beschlagnahmte eine größere Anzahl von Materialien, die für die Aufklärung von begangenen Sprengstoffund Brandanschlägen von Bedeutung sein könnten. Darunter befinden sich zwei Reisewecker, wovon einer offensichtlich für einen Sprengsatz hergerichtet ist, zwei Kurzzeitwecker, vier Batterien mit zum Teil angelöteten Kabeln. Benzin und Säuren zur Herstellung von Nitroglyzerin-Sprengstoff.
Außerdem wurden handschriftliche Aufzeichnungen über die Herstellung von Brandsätzen sichergestellt. Die Polizei entdeckte einen Polizeischutzhelm, Handfunkgeräte und Papier, größere Mengen rezeptpflichtiger Medikamente sowie ärztliche Instrumente, die für Abtreibungen Verwendung finden.
Nicht versagt
Die bisher bekannten Ergebnisse der Razzia im Wohnkollektiv des Jugendzentrums Kreuzberg im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus lassen nach Ansicht der Senatorin für Familie, Jugend und Sport, Ilse Reichel, nicht den Schluß zu, daß das dortige sozialpädagogische Experiment versagt hat. Auf einer Pressekonferenz sagte Ilse Reichel, es sei nach Auskunft der dort tätigen Sozialarbeiter des Jugendamtes Kreuzberg gelungen, den Aufenthalt von 28 der dort ständig gemeldeten 48 Jugendlichen zu legalisieren. Für weitere 12 Jugendliche habe die Legalisierung, die in der Beschaffung der Zustimmung der Eltern, polizeilicher Anmeldung u. a. besteht, kurz vor dem Abschluß gestanden.
Keine Diskriminierung
Ilse Reichel bat dringend, die Vorwürfe nicht pauschal dem sozialpädagogischen Versuch anzulasten. Die vorschnelle Diskriminierung einer ganzen Gruppe sei nicht gerechtfertigt. Jetzt sei eine massive Verunsicherung der Jugendlichen eingetreten. Diejenigen, die einen Arbeitsplatz hätten, fürchteten um dessen Erhalt.
Und so sieht es das "Kollektiv des Georg-von-Rauch-Hauses": Das Haus sei nicht besetzt worden, um hier Sprengstoffwerkstätten einzurichten, sondern um Wohn- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Lehrlinge, Jungarbeiter und "Trebegänger" zu schaffen, heißt es in einer Presseerklärung des Kollektivs. "Mit Schauermärchen will man uns von der übrigen Bevölkerung trennen." Die konkreten Folgen für die Jugendlichen seien Verlust der mühsam gefundenen Arbeitsplätze, Kriminalisierung sowie die Erzeugung von Angst und Unsicherheit.