Datum

05.09.2020

Medium

junge welt

Ausgabe

208

Seite

11

AutorIn

Robert Kneschke

Vor 50 Jahren hatten Ton Steine Scherben ihren ersten Auftritt

Waffen für die heile Welt

»Macht kaputt, was euch kaputt macht«, so schallte es am 6. September 1970 von der Bühne, beim ersten Auftritt der damals frisch gegründeten Band »Ton Steine Scherben« auf dem »Love and Peace«-Festival in Fehmarn. Das nahmen einige Rocker, welche als Sicherheitsleute engagiert worden waren, wörtlich und zündeten das Organisationsbüro an, weil sie weder Bezahlung noch eine vernünftige Verpflegung bekommen hatten. So begann die Geschichte der legendären Westberliner Rockband, welche damals aus dem Sänger Ralph Möbius (alias Rio Reiser), dem Gitarristen Ralph Peter Steitz (alias R.P.S. Lanrue), dem Bassisten Kai Sichtermann und dem Schlagzeuger Wolfgang Seidel bestand.

In der Rückschau wird die Band gerne als »Politrock«-Band bezeichnet, weil sich deren beliebteste Songs wie eine Ansammlung linker Demoparolen lesen: »Der Kampf geht weiter«, »Keine Macht für niemand« oder »Allein machen sie dich ein«. Gerne wird auch behauptet, die Scherben lieferten den »Soundtrack zur Studentenbewegung«, ein Begriff, der allein schon die Proteste der langen 60er Jahre marginalisieren soll, die tatsächlich viel heterogener waren. Die Band bildete sich im Milieu der Lehrlings- und Heimbewegung, deren Sorgen direkt vor der eigenen Haustür sichtbar waren, anders als die der Revolutionen und Aufstände in China oder Vietnam. Hervorgegangen war die Band aus dem Lehrlingstheater »Rote Steine«, Trebegänger und Ausreißer gingen in der Wohnung der Scherben ein und aus; die Heime, gegen die Jugendliche in der Heimkampagne rebellierten, waren damals eher Gefängnisse mit sadistischen Aufsehern. Die Gewalt, welche in Scherben-Songs wie »Sklavenhändler« (ursprünglich noch für das Lehrlingstheater geschrieben), »Paul Panzers Blues« oder »Feierabend« zur Sprache kam, bekamen die Lehrlinge tagtäglich am Arbeitsplatz vom Chef zu spüren.

Nicht zufällig finden sich im Booklet des berühmten Albums »Keine Macht für niemand« von 1972 Ausschnitte von Berichten über Arbeiterproteste am Fließband, ein Foto einer britischen Arbeitersiedlung sowie der Hinweis, dass das Ziel der Besetzung des später Georg-von-Rauch-Haus genannten Gebäudes die Schaffung eines selbstverwalteten Jugendzentrums sei. Neben dem Text des Songs »Menschenjäger« sind Fotos von Hans-Dietrich Genscher, Rainer Barzel und Gerhard Stoltenberg zu sehen. Genscher wurde mit 17 Jahren Mitglied der NSDAP und meldete sich 1945 freiwillig zur Wehrmacht. 1969 wurde er FDP-Innenminister. Barzel war Leutnant und Lehrer für Luftkampftaktik bei der Wehrmacht und übernahm 1971 den CDU-Vorsitz. Stoltenberg war im Zweiten Weltkrieg Marinehelfer und wurde später als CDU-Politiker erst Finanz-, dann Verteidigungsminister.

Die Eltern und Großeltern der Scherben-Hörer hatten oftmals die Naziherrschaft unterstützt, abgesehen von einigen Verurteilten der Nürnberger Prozesse besetzten die alten Nazischergen weiterhin Posten als Richter, Staatsanwälte, Polizisten oder Beamte. Die brutale Polizeigewalt 1967 bei der Demonstration gegen den Schah-Besuch zusammen mit der Tötung von Benno Ohnesorg durch einen Polizisten wirkte wie die Drohung, dass die Herrschenden ihre Position mit allen Mitteln verteidigen wollten.

Auch gegen diese Kontinuität richtete sich der jugendliche Protest, die Zukunft sollte anders werden, und Ton Steine Scherben trugen ihren Teil dazu bei: Sie spielten den britischen Rock mit seinen R-’n’-B-Wurzeln, der für die Elterngeneration nur »Hottentottenmusik« war und kombinierten ihn mit wütenden Texten auf deutsch, die Sprache, in der Roy Black, Peter Alexander und Heintje von ihrer heilen Welt sangen. Für die Scherben sollte »Musik eine Waffe« sein, wie sie in ihrer ersten Veröffentlichung schrieben.

Während für die tatsächliche Studentenbewegung der Feminismus noch ein »Nebenwiderspruch« war, lieferten Ton Steine Scherben schon 1971 mit »Frauen gemeinsam sind stark« den Soundtrack für den Film »Eine Prämie für Irene« von Helke Sander über eine Rebellion von Arbeiterinnen in der Fabrik und veröffentlichten ihn als B-Seite der Single »Allein machen sie dich ein«. In den 80er Jahren sang der schwule Rio Reiser im Song »Kommen Sie schnell«, dass ihn die Irrenanstalt abholen kommen solle, weil er sich in einen »Typ« verknallt habe. Fast 40 Jahre später wird der Song »Vincent« von Sarah Connor im Radio zensiert, wegen der Textzeile: »Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt.« Und wenn Reiser »Menschenfressermenschen bringen’s bis zum Präsidenten« singt, muss man heute unweigerlich an Trump und Erdogan denken.

Dennoch fiel es Neonazis nicht schwer, einen Song wie »Allein machen sie dich ein« bei ihren Aufmärschen zu spielen oder ihn gleich wie die wegen Volksverhetzung verurteilte Rechtsrock-Band Landser zu covern. Ein »neurechter« Internetautor verstieg sich 2018 gar zu der These, dass die »Keine Macht für niemand«-LP besser zur AfD als zu den Linken passe. Der erste Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel sagt dazu: »Die Vereinnahmung ist gar nicht nötig. Die Rechte hat große Teile der Popmusik erobert. Wer also an eine irgendwie naturhafte emanzipatorische Kraft in der Popmusik glaubt, muss noch einmal nachdenken.«

Die rechte Aneignung der Scherben-Texte funktioniert nur, wenn diese losgelöst von der Entstehung betrachtet werden. Ein Grund für die langanhaltende Beliebtheit der Ton Steine Scherben in der linken Szene ist auch, dass sie ihre Songinhalte lebten: Die Platten wurden anfangs selbst gepresst und verkauft, später ein eigenes Label und ein Vertrieb gegründet und die Preise der Konzerttickets niedrig gehalten. Konzerte wurden Ausgangspunkt für Hausbesetzungen (1971 das Georg-von-Rauch-Haus in Berlin, 1972 das Richard-Epple-Haus in Tübingen) und konnten auch schon mal in lange Diskussionsrunden über die Rolle der Frau ausarten, weil die Band 1976 eine dreiköpfige Frauengruppe als Hintergrundchor auf der Bühne hatte. Eine der Frauen war Britta Neander, welche später die Frauenband Carambolage gründete, aus der wiederum die Lassie Singers und Britta hervorgingen.

Was können heutige Protestbewegungen von Ton Steine Scherben lernen? Seidel ist skeptisch: »Wer heute auf die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse die Antworten von damals nur wiederholt, macht aus deren Geist etwas, das womöglich nur noch als Gespenst fortlebt. Oder als Marke.« Trotzdem oder genau deshalb finden sich lange nach dem Ende von Ton Steine Scherben unzählige Anspielungen in den Songtexten junger deutscher Musiker von Annen May Kantereit, Adel Tawil, Auletta und den etwas älteren Schröders bis hin zu Deutschrappern wie Casper, Sido, Antilopen Gang, Fettes Brot, Blumentopf, Die Fantastischen Vier, Alligatoah oder Dendemann. Das ist um so bemerkenswerter, weil andere Deutschrocker wie Grönemeyer oder Westernhagen, die zur gleichen Zeit und deutlich länger als Rio Reiser aktiv waren und etliche Nummer-eins-Alben hatten, in der jungen Musikszene deutlich weniger Widerhall finden. Da passt der Kommentar des ­riolyrics.de-Nutzers »sky«: »Sehr schade, dass Rudi Dutschke und Rio Reiser nicht mehr leben, aber gut ist, dass sie noch existieren.«

Robert Kneschke ist Betreiber der Webseite riolyrics.de. Im von Wolfgang Seidel herausgegebenen und in diesem Jahr neu aufgelegten Sammelband »Scherben« (Ventil-Verlag, Mainz 2020, 256 Seiten, 18 Euro) erschien sein Text »Sklavenhändler im Callcenter. Warum die Scherben immer noch junge Menschen inspirieren und deshalb sogar Webseiten entstehen«.