Mein Weg zu Reiser
von Marko Meister
Kein Parteiprogramm, keine Politikerphrase inspiriert mich so eindringlich, über Politik, über dieses Land, über unsere Zukunft nachzudenken...
(Marko Meister, geb. 1971, Erfurt)
"Scherben, Scherben, Scherben ...", hallt es durch den Konzertsaal am Moskauer Platz in Erfurt. "Die Scherben sind nicht da, oder seht Ihr sie irgendwo?", kommt als Antwort von der Bühne. 1990 war Erfurt eine Station auf Rio Reisers "Geld"-Tour. Für mich die erste Gelegenheit, ihn live auf der Bühne zu erleben. Spätestens seit damals ist mir klar: Rio Reiser - das ist etwas anderes als die Scherben. Doch der Hauptgrund für die Faszination, die er auf mich ausübt, sind nicht seine Konzerte, sondern es ist Rios Fähigkeit, all das, wofür wir nur schwer Worte finden können, in seinen Texten auszudrücken.
1986, als Rio Reiser sein erstes Soloalbum herausbrachte, war ich 15, wußte nichts von den Scherben, und Rio kannte ich nur als König von Deutschland. Eine Freundin hatte die Platte von Bekannten geschickt bekommen - über sie kam ich zu meiner ersten Rio-Reiser-Kassette. Schon damals waren es die tiefgründigen Titel auf dieser Platte, die mich am meisten faszinierten. In Songs wie "Bei Nacht" oder "Menschenfresser" erkannte ich genau die Probleme, die mich damals bewegten. Kein Wunder, daß ich Rio treu blieb und mir bald die ersten Scherben-Kassetten besorgte.
Eine der nachhaltigsten Erinnerungen an diese Zeit verbinde ich mit "Steig ein". In Lübbenau, im wahrsten Sinne des Wortes am Ende der Welt, lernte ich einen Beruf, der mir niemals richtig Spaß machen wollte. Dazu jedes Wochenende die lange Heimfahrt von sechs, sieben Stunden. Und am späten Sonntagabend dann der Höhepunkt der Depression, ein halbstündiger Fußmarsch vom Bahnhof zurück zum Lehrlingswohnheim. Dieses Bild einer sternenklaren, kalten Nacht, um mich herum die Steinwüste der Neustadt von Lübbenau - auf dem Walkman die Vision einer besseren Zukunft, die, wie mir schien, nur deshalb noch nicht wahr geworden ist, weil ich noch nicht eingestiegen bin...
"Als ich in einer schlaflosen Nacht über die kalten Straßenlaternen und neonbleichen Häuserreihen hinweg in den klaren Winterhimmel schaute, fiel mir ein Stern auf. Er gefiel mir, und je länger ich ihn betrachtete, desto größer und deutlicher wurde er für mich. Durch seine leuchtende blaue Atmosphäre konnte ich Meere und Kontinente erkennen. Ich sah Urwälder, die wie eine schützende Hand das Land bedeckten. Gebirge, in deren schneeüberzogenen Gipfeln sich die Mittagssonne bricht wie in einem kostbaren Diamanten. Flimmernde Wüsten, in denen nur der Wind wohnt. Flüsse, die breit und schwer wie die trägen Gedanken eines Sommernachmittags dahinfließen. An ihren Ufern - wogende Getreidefelder, vom Duft schattiger Obstgärten erfüllte Luft. Dann sah ich sie. Ihre Haut war braun, manchmal heller, manchmal dunkler. Sie pflügten die Erde, bestellten die Felder, bauten Brücken aus seltsamem Metall. Manche schwebten in schimmernden Kugeln durch die Luft. Ich sah sie in der Sonne liegen. Sah sie tanzen. Hörte ihre Gesänge. Spürte ihre Liebe. Dann sah ich ihre Städte: Städte, deren Schönheit ich nicht beschreiben kann. Städte ohne Haß und ohne Hast. Und ich sah keine stickigen Hinterhöfe, keine rasenden Blechkisten, keine verhungerten Kinder und niemanden, auf den eine Waffe gerichtet war. Ich sah keine marschierenden Truppen, keine bombenwerfenden Flugzeuge - und: Ich sah niemanden, der Geld zählte. Ich sah fröhliche Gesichter und sah traurige Gesichter. Aber nirgendwo begegneten mir hoffnungslose Blicke. Das Bild zerriß - - und da war nur noch die klare Dezembernacht mit ihren Tausenden von Sternen. Ich habe viele schlaue Bücher gewälzt, um den Namen dieses Sterns zu erfahren, habe vielen klugen Leuten sein Aussehen beschrieben. Es kann nur einer sein: mein Stern, dein Stern, unsere Heimat - die Erde! Die Zukunft der Erde! Die Erde der Zukunft! Sie liegt vor uns! Komm mit! Komm mit! Leg deine alten Klamotten ab, pack deine Sachen, spring aus deinem Grab! Steig ein, spring auf ..."
(Vorrede zu "Steig ein" auf der TonSteineScherben-LP Wenn die Nacht am tiefsten, 1975)
Zum Einsteigen gab es dann genügend Gelegenheit - über Deutschland brach die Wende herein. In der Zeit der sanften Revolution erschienen mir die Scherben-Titel alles andere als zehn Jahre alt. Im Gegenteil: Eine merkwürdige Mischung aus Protest, Hoffnung, aber auch beginnender Machtlosigkeit gegenüber der tagtäglichen Entwicklung führte dazu, daß ich die Lieder der Scherben immer wieder wie zum ersten Mal hörte. Und der Protest ging weiter. Mit Sprayfarbe bewaffnet kämpften wir gegen den übermächtigen Schwall an Helmut-Kohl-Wahl-Plakaten an, erfanden so sinnige Sprüche wie "Ohne Kohl ist uns wohl", sahen den Turm einstürzen und sprühten unsere Freude darüber mit einem beherzten "na endlich" darunter. Ach, was waren das für Zeiten...
Aber auch ganz alltägliche Erlebnisse sind in meiner Erinnerung fest mit den Liedern von Rio Reiser verknüpft. Zum Beispiel waren die Renovierungsarbeiten an der heruntergekommenen Bude in der Erfurter Heinrichstraße, meiner ersten eigenen Wohnung, in die ich 1990 einzog, oft auch von Rios Song "Vier Wände" begleitet.
Damals begann auch unsere Scherbennächte-Tradition: Ja, ja, ja, jährlich einmal... Getreu diesem etwas abgewandelten Scherben-Titel verbringen wir seitdem mindestens einmal im Jahr eine Nacht am Lagerfeuer und hören und singen die Lieder von Rio Reiser. Sein Tod kam für uns völlig überraschend. Alle aufzutreibenden Tondokumente mit Rio hörten wir uns in einer Marathon-Nacht an. Eine Nacht, in der wir uns seltsam eng mit Rio Reiser verbunden fühlten und auf unsere Weise Abschied nahmen.
Die Lieder von Reiser und den Scherben haben mich einen ganzes Stück auf meinem Lebensweg begleitet. Sie tun es immer noch: Jedesmal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich "Bist Du's" höre und an die Fete bei S. denke, mit der wir 1989 Kodi zum Armeedienst bei der NVA verabschiedeten. - Nichts kann mich besser motivieren, als Reiser "... doch ich will diesen Weg zu Ende geh'n" singen zu hören. - Kein Parteiprogramm, keine Politikerphrase inspiriert mich so eindringlich, über Politik, über dieses Land, über unsere Zukunft nachzudenken, wie die Visionen, die Reiser und die Scherben in Liedern wie "Wir müssen hier raus" oder "Der Traum ist aus" zum Ausdruck bringen.
noch keine Kommentare