Datum
11.11.2025Medium
Seminararbeit Meranier-Gymnasium LichtenfelsAusgabe
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AutorIn
Finley SchatkeDie Wirkungsgeschichte politischer Musik in der Gesellschaft- Ein Vergleich zwis
Seminararbeit aus dem Leitfach Geschichte
Inhaltsverzeichnis
1 LIEDER DES AUFBRUCHS - POLITISCHE MUSIK ZWISCHEN PROTEST
UND HOFFNUNG .................................................................................................. 2
2 DIE WIRKUNGSGESCHICHTE POLITISCHER MUSIK IN DER
GESELLSCHAFT- EIN VERGLEICH ZWISCHEN TON STEINE
SCHERBEN UND RECHTSROCK ...................................................................... 4
2.1 „WIR MÜSSEN HIER RAUS“ – TON STEINE SCHERBEN ..................................... 5
2.1.1 Inhaltliche und rhetorische Analyse ......................................................... 5
2.1.2 Historischer Kontext und gesellschaftliche Rezeption ............................. 9
2.1.3 Zentrale Motiv: Rebellion gegen Stillstand ............................................ 11
2.2 „EISERN BERLIN“ – SPREEGESCHWADER ...................................................... 12
2.2.1 Inhaltliche und rhetorische Analyse ....................................................... 13
2.2.2 Historischer Kontext und gesellschaftliche Rezeption ........................... 15
2.2.3 Zentrales Motiv: Vergeltung und gewaltsamer Widerstand .................... 18
2.3 VERGLEICH DER ZENTRALEN MOTIVE UND IHRE DYNAMIK .......................... 18
2.3.1 Gemeinsamkeiten als Ausdruck politischer/jugendkultureller
Radikalisierung ....................................................................................... 19
2.3.2 Divergenzen in Ideologie und soziokultureller Einbettung..................... 20
2.3.3 Vergleich der Wirkungsgeschichte beider Lieder ................................... 21
3 FAZIT: POLITISCHE MUSIK: ZUSAMMENSPIEL VON KONTEXTEN,
REZEPTIONEN UND DEUTUNGEN STATT URSACHE-WIRKUNGSPRINZIP
............................................................................................................ 24
4 VON DER BARRIKADE ZUM FEED - POLITISCHE MUSIK IM
DIGITALEN ZEITALTER ....................................................................................... 25
5 ANHANG ........................................................................................................... 27
5.1 SONGTEXT: WIR MÜSSEN HIER RAUS VON TON STEINE SCHERBEN, 1972 ..... 27
5.2 SONGTEXT: EISERN BERLIN VON SPREEGESCHWADER, 1996 ........................ 29
6 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS .......................................... 31
6.1 PRIMÄRQUELLEN ......................................................................................... 31
6.2 SEKUNDÄRQUELLEN .................................................................................... 32
7 SCHLUSSERKLÄRUNG ................................................................................ 36
2
1 Lieder des Aufbruchs - Politische Musik zwischen Protest und
Hoffnung
„Image all the people living, life in peace”1- John Lennons weltberühmte Zeile ist
längst zur Utopie in Moll geworden. Doch Musik ist selten nur Harmonie. Wenn
„Another Brick in the Wall“2 aus Schulhöfen dröhnt oder sich jemand fragt: „Wozu
sind Kriege da?“3, wird deutlich, dass Lieder weit mehr transportieren als Melodien.
Sie sind Ausdruck, Anklage, Aufruf. In Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit, politischer
Spaltung oder tiefgreifenden Gestaltwandels wird die „Bühne zur Barrikade“
4, das Mikrofon zur Waffe, und aus Refrains werden Parolen. Musik wird politisch
- ob gewollt oder nicht.5
Der politische Song ist weder ein modernes noch marginales Phänomen. Seit Jahrhunderten
dienen Lieder der Artikulation von Machtkritik, kollektiven Sehnsüchten
und ideologischen Weltbildern. Wenn die „Marseillaise“6 1792 zum Kampflied der
Französischen Revolution wurde, wenn im 19. Jahrhundert Arbeiterchöre gegen soziale
Missstände sangen oder „Die Gedanken sind frei“7 im NS-Widerstand erklang,
dann zeigt sich: Musik war immer schon Medium gesellschaftlicher Positionierung.
Sie mobilisiert, provoziert, tröstet – und spaltet. Musik bringt politische
Zusammenhänge, geschichtliche Brüche und kulturelle Spannungen auf eine emotional
nachvollziehbare Ebene. Das macht sie wirkungsmächtig und so gefährlich.8
Diese Arbeit untersucht die Wirkungsgeschichte9 politischer Musik in der Gesellschaft
anhand eines Vergleichs der Lieder „Wir müssen hier raus“10 von Ton Steine
1 Lennon, John: Imagine. In: Songtexte.com o.J. (17.10.2025)
2 Waters, Roger: Another Brick in the Wall. In: Songtexte.com o.J. (17.10.2025)
3 Lindenberg, Udo: Wozu sind Kriege da. In Songtexte.com o.J. (17.10.2025)
4 Fleischer Janina: „Satire entsäuert den Magen“: Kabarettist Philipp Weber über mündige Bürger und Kulturkämpfe.
In: Leipziger Volkszeitung 2023. < https://www.lvz.de/kultur/regional/interview-kabarettistphilipp-
weber-ueber-essen-politik-kulturkaempfe-DMR3OZQDY5GS7NR5JXLRDA4M2M.html>
(17.10.2025)
5 Vgl. Dunkel, Mario: Musik ist immer politisch. In: Universität Oldenburg 2023. < https://uol.de/aktuelles/
artikel/musik-ist-immer-politisch-9396> (17.10.2025)
6 Rouget de Lisle, Claude Joseph: La Marseillaise. In: Frankreich- Info.de < https://www.frankreichinfo.
de/themen/politik/marseillaise> (17.10.2025)
7 Hoffman von Fallersleben, August Heinrich: Die Gedanken sind frei. In: Gedichte7.de 2024.
(01.09.2025)
8 Vgl. Peddie Ian: The Resisting Muse. Popular Music and Social Protest, Abingdon 2006, S. 50-56
9 Vgl. Kuhn, Hans-Werner: Musik und Politik. Politisch-kulturelles Lernen als Zugang Jugendlicher zur
Politik?! Hermeneutische Aspekte eines doppelten Zusammenhangs. In: Friedrich Werner (Hrsg.)/
Thomas Goll(Hrsg.): Politik in der Kunst – Kunst in der Politik zum Potential ästhetischer Zugänge zur
Politik (Politische Bildung) Wiesbaden 2021, S.71f.
10 Ton Steine Scherben: Wir müssen hier raus. In: riolyrics.de o.J..< https://riolyrics.de/song/id:1>
(03.06.2025)
3
Scherben sowie „Eisern Berlin“11 von der Band Spreegeschwader. Anhand dieser
konträren Werke soll sich im Verlaufe der Arbeit zeigen, dass politische Musik ihre
Wirkung nicht aus sich selbst heraus entfaltet, sondern im Zusammenspiel von Zeit,
Rezeption und Deutung. Die Musik steht im Dialog mit ihrer Zeit und formt bzw.
spiegelt mit ihren zentralen Motiven politische Realität.
Methodisch folgt diese Untersuchung einem hermeneutisch-kulturgeschichtlichen
Ansatz. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine differenzierte Analyse des Songs „Wir
müssen hier raus“ von Ton Steine Scherben. Diese umfasst neben einer inhaltlichen
und rhetorischen Analyse, auch den historischen Entstehungskontext, greift gesellschaftliche
Rezeptionen auf und sondiert das zentrale Motiv des Liedes heraus. Anschließend
wird „Eisern Berlin“ von Spreegeschwader vergleichend herangezogen.
Darauf aufbauend widmet sich Kapitel 2.3 einem direkten Vergleich der zentralen
Motive und Dynamik. Im Zusammenhang damit werden sowohl ihre gemeinsame
Funktion als Ausdruck politischer Radikalisierung, als auch die divergierenden
Zielsetzungen und gesellschaftlichen Einbettungen betrachtet. Schließlich dient
Kapitel 3 als abschließendes Fazit. Es führt die Erkenntnisse zusammen und verdeutlicht,
dass durch die Wirkungsgeschichte nicht nur politische Lieder besser verständlich
werden. Zusätzlich wird klar, dass politische Musik nicht nach einem einfachen
Ursache-Wirkungs-Prinzip funktioniert, sondern ihre Wirkung durch das
Zusammenspiel verschiedener Komponenten entfaltet. Zum Schluss wird in Kapitel
4 die Frage beleuchtet, wo die Grenzen musikalischen Protests verlaufen und
abschließend eine Einordnung der Wirkung von politischer Musik vorgenommen.
Grundlage hierfür bilden neben den Liedtexten auch wissenschaftliche Werke wie
Wolfgang Seidels Sammelband „Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton
Steine Scherben“12, der eine multiperspektivische Betrachtung der Band erlaubt,
sowie die Arbeiten von Christian Dornbusch und Jan Raabe zur rechtsextremen
Musikszene, etwa in „Rechtsrock-Bestandsaufnahme und Gegenstrategien“13. Ergänzt
werden diese durch weitere Artikel aus wissenschaftlichen Zeitschriften, ausgewählte
Internetquellen und Archivmaterialien. Obwohl sich diese Arbeit grundsätzlich
mit der gesellschaftlichen Wirkung politischer Musik befasst, sind die
11 Spreegeschwader: Eisern Berlin. In: YouTube o.J.. < https://www.youtube.com/watch?v=nVZQd18B-x8>
(25.10.2025).
12 Seidel, Wolfgang (Hrsg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, Mainz 2006
13 Dornbusch, Christian (Hrsg.)/Raabe Jan (Hrsg.): Rechtsrock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien,
Münster 2002
4
Zielgruppen der ausgewählten Lieder überwiegend Jugendkulturen. Aufgrund der
Forschungslage, die zeigt, dass die Wirkung dieser politischen Musik deutlich in
jugendkulturellen Milieus zu erkennen ist, wird in dieser Arbeit das Augenmerk auf
jugendliche Adressaten gelegt. Dennoch soll pauschal ein Blick auf die allgemeine
gesellschaftliche Wirkung abgeleitet werden.
2 Die Wirkungsgeschichte politischer Musik in der Gesellschaft-
Ein Vergleich zwischen Ton Steine Scherben und Rechtsrock
Ausgehend von der bereits dargelegten Methodik sowie der formulierten Zielsetzung
richtet sich der Fokus nun auf die Analyse der genannten Lieder, die für zwei
ideologisch-politisch antipodische Strömungen in der BRD stehen. Die Stücke „Wir
müssen hier raus“ und „Eisern Berlin“ wurden gezielt gewählt, da sie nach wie vor
in allen Aspekten als charakteristisch für ihre jeweiligen Szenen gelten: Einerseits
für die linke Gegenkultur der frühen 1970er Jahre, andererseits für die rechtsextreme
Skinhead-Subkultur. Die Werke machen sichtbar, dass der Einfluss politischer
Musik - im Sinne hermeneutischer Grundgedanken - nur mit Betrachtung ihrer Wirkungsgeschichte
erklärbar ist.14 Nicht allein der ursprüngliche Entstehungskontext
definiert die Bedeutung, sondern sie redefiniert sich aus dem Zusammenspiel von
historischen Bedingungen, Rezeptionen und auch fortgesetzten Deutungen.15 Wirkungsgeschichte
beinhaltet also den Einfluss, die Bedeutung und das Verstehen im
Kontext. Diese beiden Lieder machen exemplarisch sichtbar, wie politische Musik
durch Rezeption unterschiedliche Bedeutungen bzw. Ausdrucksformen entfaltet
und stehen damit für zwei konträre, aber gleichsam bezeichnende Fallbeispiele der
Wirkungsgeschichte politischer Musik. Zugleich zeigen sie ihre gesellschaftliche
Funktion und ihr Agieren in der von Dr. Ute Canaris beschriebenen Funktion als
„Magd, Begleiterin und Modell der Politik“16: Als Magd in dem Sinne, dass gewisse
Musikstücke bewusst für politische Zwecke instrumentalisiert werden, als Begleiterin
der Politik, insofern sie den Zeitgeist widerspiegeln und zudem als Soundtrack
einer Epoche verstanden werden können.17 Schließlich als Modell der Politik, wenn
durch dystopische oder utopische Perspektiven alternative gesellschaftliche
14 Vgl. Kuhn, H.-W. u.a., a.a.O., S. 71f.
15 Vgl. ebd.
16 Canaris, Ute: Dienerin, Gefährtin oder Wegweiserin? Was Musik mit Politik zu tun hat. In: Canaris Ute
(Hrsg.): Musik//Politik. Texte und Projekte Bochum 2005, S. 25
17 Vgl. Canaris, U. u.a., a.a.O., S. 25-46
5
Zustände imaginiert werden.18 In Bezug auf die hier untersuchten Politrockstücke
werden diese Aspekte im Vergleichskapitel 2.3 aufgegriffen.
2.1 „Wir müssen hier raus“ – Ton Steine Scherben
2.1.1 Inhaltliche und rhetorische Analyse
„In der Nacht ist der Mensch nicht gern allein“19 von Marika Rökk ist nicht nur ein
bekannter Schlager aus dem Film „Die Frau meiner Träume“ aus den 40er Jahren,
sondern auch der erste Vers der ersten Strophe (V.1-8). Diese arbeitet also mit einer
Intertextualität. Durch Reisers Verfremdung zu „im Bett ist der Mensch nicht gern
allein“ (V.1) wird eine intime bzw. sexuelle Ebene intensiviert.20 Diese Ebene wird
durch den zweiten Vers: „Und in meinem Bett ist grad noch Platz für dich“ (V.2)
konkretisiert, womit eine Paarbeziehung des lyrischen Ichs ausgedrückt wird. Außerdem
wird mit der Verbindung der ersten Verse deutlich, dass das lyrische Ich
nach Nähe und Liebe strebt. Durch die Missbilligung der Beziehung durch den Vater,
welche deutlich wird, als das lyrische Ich seinem Partner mitteilt „Und ich
glaub´, er hat was gegen dich“ (V.4), zeigt sich der Generationenkonflikt der 70er
Jahre. Die Figur des „Alten“(V.3) steht nicht nur für den Vater, sondern auch pars
pro toto für eine ältere, autoritäre Generation , die an repressiven Erziehungskonzepten
festhält.21 Damit wird die private sexuelle Frustration ein kollektives Symptom
und macht aufmerksam auf strukturelle Unterdrückungen, worunter man gesellschaftliche
Macht- und Normsysteme versteht, die individuelle Entfaltung z.B.
durch traditionelle Moralvorstellung begrenzen.22 Dies wird in der Klage „die Welt
ist nicht mehr in Ordnung“ (V.5) besonders eindeutig. Frustration bleibt weiter ein
Thema in dieser Strophe. Dabei zeigt sich, sowohl mit „früh um sieben“ (V. 6), also
bei Arbeitsantritt, sowie durch „und auch nicht nach der Tagesschau“ (V.6), womit
vermutlich auf die „Nachrichtensendung am Ende des Tages“23 hingedeutet wird,
dass die Welt für das lyrische Ich „nicht in Ordnung“ (V.5) sei. Auch die Sendung
„Wort zum Sonntag“ (V.7) wird einbezogen und durch die beigefügte Vulgärformel
18 Vgl. Canaris, U. u.a., a.a.O., S. 25-46
19 Rökk, Marika: In der Nacht ist der Mensch nicht gern allein. In: Notenmuseum.de o.J.<
https://www.notenmuseum.de/sammlung-u-musik-bis-ca-1960/top-schlager-deutsch/in-der-nacht-ist-dermensch-
nicht-gern-alleine/> (20.09.2025)
20 Vgl. Schuster, Bennet: Das Private ist politisch?. Die Texte von Ton Steine Scherben und die Neue Subjektivität,
Masterarbeit, Deutsche Philologie, Berlin: Freie Universität Berlin, S.70
21 Vgl. Baader, Meike Sophia: 1968 und die Erziehung. In: Tobias Schaffrik(Hrsg.)/ Sebastian Wienges(
Hrsg.): 68er- Spätlese. Was bleibt von 1968? Münster 2008, S.63ff.
22 Vgl. Galtung, Johan: 1969. Violence, Peace, and Peace Research. Jornal of Peace Research 6, S.168
23 Vgl. Gruber, Stefanie: „Wir müssen hier raus“. Polit-Krautrock der BRD in den beginnenden 1970ern am
Beispiel von Ton Steine Scherben und Floh de Cologne, Diplomarbeit, Philosophie, Graz: Karl-Franzens-
Universität Graz, S.89
6
„Scheiße“ (V.7) harsch negativ konnotiert. In diesen Versen wird Konsumkritik geübt,
die durch eine gewünschte Ablenkung des Proletariats von seinen schlechten
Lebensbedingungen durch lebenslänglichen Zwangskonsum mithilfe des charakteristischen
Massenmediums der Tagesschau ausgedrückt wird (Vgl. V.6) .24 Außerdem
spiegelt das Format „Wort zum Sonntag“ (V.7) bürgerlich-christliche Normen
wider und steht damit stellvertretend für die Kirche, die in der neuen linken Szene
keinen guten Ruf genoss.25 Dass das lyrische Ich den bestehenden Lebensverhältnissen
entfliehen will, zeigt sich im Ausruf „Mach mal blau“ (V.8) , da es eine bewusste
Verweigerung der Pflichterfüllungen in der Gesellschaft offenbart.26 Ton
Steine Scherben gibt hier damit der Frustration über die etablierte Vorstellung eines
„gutbürgerlich[…] strukturierten Alltag[s]“27 einer ganzen Jugend Ausdruck. Sogleich
ist augenfällig, dass diese nach einer antiautoritären und alternativen Lebensweise
strebt. Die Strophe artikuliert eine gewisse individuelle Enge, die sich vom
Privaten bis ins Politische erstreckt, womit sinnbildlich eine politische Rebellion
gefordert wird.
Der Refrain schreibt dem lyrischen Ich und seinem Partner mit dem Pronomen
„Wir“ (V.9) ein „kollektives Selbstbild“28 zu. Zudem zeigt er auch, dass Ton Steine
Scherben einer großen Anzahl von Individuen eine Stimme gibt, indem das „Wir“
(V.9) auf „zwei von Millionen“ (V.12) ausgeweitet wird.29 So entsteht die Metapher,
dass Millionen in einem „Zuchthaus“ (V.10) leben, womit Ton Steine Scherben bewusst
auf die frühere Definition aus dem Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches
von 1871 zurückgreift, die erst 1969 abgeschafft wurde.30 Die Zuchthausstrafe wird
mit einer zeitlichen Freiheitsstrafe, die mit Zwangsarbeit verbunden ist, definiert.31
Der Alltag in der BRD wird hiermit mit einer drakonischen Strafe verglichen, was
24 Vgl. Ganguin, Sonja/ Sander, Uwe: Geschichte und Strömungen der Medienpädagogik. Kritisch- emanzipative
Medienpädagogik. In: Sonja Ganguin(Hrsg.)/Uwe Sander: Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden
2008, S.61
25 Vgl. Lauer, Julia: Eine komplizierte Beziehung - Die 68er-Bewegung und die christlichen Kirchen. In:
evangelisch.de 2018.(10.10.2025)
26 Vgl. Walter, Klaus: Wie „deutsch“ ist Krautrock?. In: Deutschlandfunk 2016. (10.10.2025)
27 Gruber, S. , a.a.O.; S.90
28 Vgl. ebd.
29 Vgl. Wrobel, Dieter: Zwischen Bürgerschreck und Spaßkultur. Die Ausweitung der Sprachzone in Liedern
und lyrics/Lyrik der Neuen Deutschen Welle. In: Georg Ackermann(Hrsg.) u.a.: Deutsches Lied.
Vom Niedergang der Diseusenkultur bis zu Aggro Berlin Bielefeld 2007 Wrobel 2008, S.483
30 Vgl. Rath, Martin: Zuchthaus, Gefängnis oder Festungshaft?. In: LTO 2025.
(9.09.2025)
31 §§14,15 StGB 1871
7
das Gefühl der Enge und Unterdrückung drastisch hervorhebt. Für die letzten 3
Verse (V.11-13) des Refrains wechselt der Sänger vom Schreien eher zum Singen
und das Tongeschlecht verändert sich von Moll zu D-Dur. Dadurch wird bewusst,
dass die letzten 3 Versen den Übergang zu einem aufkommenden Optimismus markieren,
der durch Kollektivität, ausgedrückt durch einen leisen Chor, unterstützt
wird. Im Gegensatz zur vorher als „[L]eben im Zuchthaus“ (V.10) beschriebenen
Existenz in der BRD, erhebt das lyrische Ich nun den Anspruch, „geboren [zu sein],
um frei zu sein“ (V.11). Daraus ergibt sich ein Appell, der über das lyrische Ich und
seinem Partner hinausgeht: Nicht nur die beiden, sondern Millionen von Menschen
sind den Engen und Unterdrückungen des alltäglichen Lebens, wie Arbeit, Konsum
und bürgerlichen Strukturen, gefangen. Der Ausruf „[w]ir werden es schaffen“
(V.13) zeigt nun, dass sie gemeinsam die Freiheit erlangen können, welche ihnen
nach dem Grundrecht der BRD zusteht.32 Durch die Wiederholung des Ausrufes,
welche den Refrain beendet, kann man diesen Worten eine Suggestivkraft zuschreiben,
da sie die Gruppengemeinschaft betonen. Dazu trägt zusätzlich das immer wieder
anaphorisch eingesetzte „Wir“ (V.12-13) bei, das dem Text zusätzlich den Charakter
einer Parole gibt. Zugleich bleibt jedoch bewusst offen, was genau „geschafft“
werden soll. Diese Offenheit bietet einen breiten Deutungshorizont, der
sich auch hier vom Privaten - den persönlichen Zwängen - bis zum Politischen -
den Ausruf zur gesellschaftlichen Befreiung - erstreckt. Gerade diese Unbestimmtheit
macht den Vers zur Parole, da er eine große Projektionsfläche bietet.33
Die Aufbruchstimmung erlischt in der zweiten Strophe, denn im Gegensatz zum
lyrischen Ich, welches daran glaubt einen Ausweg aus dem Alltagstrott zu finden,
wird sich für den Vater „die Welt […] nicht ändern“ (V.14). Dadurch entsteht beim
lyrischen Ich Diskrepanz zwischen der Untätigkeit und der, für den Vater dennoch
erkennbaren, Veränderung, die durch das „[d]abei“ (V.15) und den Ausdruck er
wisse „ganz genau, was läuft“ (V.15) vermittelt wird. Anstatt dass der Vater der
Aufbruchstimmung positiv entgegensieht, flüchtet er in Verdrängung, besser gesagt,
in die „Kneipe hängt und sauft[sic!]“ (V.17) dort. Auch hier wird wieder indirekt
Konsumkritik geübt, da Alkohol genauso wie die Medien als temporäre Ablenkung
von eigentlicher Unfreiheit dient. Der Ausdruck „Scheiße“ (V16) bezieht sich
32 §§1-19 GG
33 Vgl. Peters, Sebastian: Ein Lied mehr zur Lage der Nation. Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs,
Berlin 2010 S.196
8
auf die Meinung des Vaters über die wandelnde Realität, mit der zuhause wohl die
Aufbruchsstimmung des lyrischen Ichs karamboliert. Die Wahl der „Theke“ (V.18)
als Lieblingsort des Vaters verdeutlicht eine Art Resignation. Diese Haltung endet
jedoch nicht in einem Konflikt, vielmehr betont sie geteilte Erfahrungen prekärer
Lebensbedingungen des Proletariats. Die limitierte Größe der Wohnung, welche
wohl kaum „Platz für drei“ (V.19) bietet, kann mit der Arbeitslosigkeit des Vaters,
die in Strophe 1 mit dem Vers „mein Alter ist fast jeden Tag zu Hause“ (V.3) angedeutet
wird, begründet werden. Die Wohnsituation könnte aber auch auf die fatalen
Mietentwicklungen in der BRD 1972 hinweisen.34 Arbeit und die Kneipe erscheinen
hier als Strategien der Bewältigung, die jedoch perspektivlos sind und damit
den Eindruck struktureller Ausweglosigkeit verstärken. „[D]en ganzen Tag auf Arbeit“
(V.20) zu sein, bewertet das lyrische Ich mit einer hyperbolischen Andeutung
auf den Nationalsozialismus: „Man kann sagen, ich bin so frei“ (V.21). Diese evoziert
bewusst die zynische, über den Toren der Konzentrationslager zu findende
Phrase „Arbeit macht frei“. Durch die intertextuelle Anspielung wird Arbeit als
Zwangs- und Unterdrückungsmechanismus präsentiert und nochmal die Aussage
des „[L]eben im Zuchthaus“ (V.10) des Refrains unterstrichen. Das bestätigt auch
die Aussage von Stefanie Gruber, Magistra der Philosophie, dass die Intertextualität
im Lied-Kontext vielmehr als Metapher für Systemkritik verstanden werden kann.35
Danach erklingt erneut der Refrain (V.22-26).
Die letzte Strophe weist auf den ersten Blick große Ähnlichkeiten zum Refrain auf,
herausstechend ist nur die Frage nach den Hindernissen für die emanzipatorische
Rebellion. Dies lässt sich an der Aufzählung von „kein[em] Geld, keine[n] Waffen“
(V.28) erkennen, die hervorhebt, dass physische Machtinstrumente gegenüber dem
Drang nach bedingungsloser Freiheit machtlos erscheinen. Erneut wird hier das Gemeinschaftsgefühl
mithilfe einer Klimax betont: vom Paar mit „Wir sind zwei von
Millionen“ (V. 31) bis hin zu „Wir sind sechzig Millionen“ (V.33), was die damalige
Bevölkerung der BRD spiegelt.36 So werden vor allem Solidarität und das Gefühl
des „Nicht-Alleinseins“ bewusst hervorgehoben, indem die Menschenmasse definiert
wird und dadurch greifbar erscheint. Durch den hymnischen Charakter, die
34 Vgl. Rudolf, Augstein: Wahlparolen ohne Echo?. Mieten in Deutschland: Not im Wohlstand. DER SPIEGEL
(1972), S.72f.
35 Vgl. Gruber, S., a.a.O., S.91
36 Vgl. Brand, Ruth: In: Statistisches Bundesamt o.J... (23.09.2025)
9
Freiheitsrufe und eine Art beschwörende Sprache wendet sich der Song optimistisch
in die Zukunft.
2.1.2 Historischer Kontext und gesellschaftliche Rezeption
Die 1970er sind geprägt von der Ostpolitik Willy Brandts, der Ölkrise und dem
linksextremistischen Terror der RAF. Dennoch ist es wichtig den historischen Kontext
der 68er-Bewegung vor Analyse der Wirkungsabsichten bzw. Wirkungsgeschichte
des Liedes zu betrachten, da ihre Ziele in linken Strömungen der 1970er,
welche den Entstehungskontext des Werkes darstellen, fortwirken. Die Band rund
um Rio Reiser bringt besonders „Spätgeborenen immer noch das Lebensgefühl von
`68 nahe“ 37. 1968 war ein Jahr tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen
Aufbruchs. Es war geprägt von einer Bewegung geistiger Erneuerung, die sich in
Form einer Jugend- und Sozialrebellion manifestierte und sowohl von Arbeitern,
aber auch von jungen Intellektuellen ausging. Sie setzten für Demokratisierung in
allen Bereichen und Antifaschismus ein, wandten sich gegen autoritäre Strukturen
und eröffneten neue kulturelle Dimensionen in den Gebieten Lebensstil, Sexualität
sowie Musik.38
Die Proteste, welche anfänglich hochschulpolitische Anliegen umfassten, entwickelten
sich später hin zu geopolitischen Themen wie Vietnam und zum Boykott
der Notstandsgesetze. Diese Ausweitung der Feindbilder schuf eine breitere Mobilisierung,
wozu auch die Medien beitrugen, indem sie Studentenbewegungen aus
aller Welt zeigten. Nachdem das integrierte Feindbild durch die Verabschiedung der
Notstandsgesetze wegfiel, verebbte die Bewegung und diffundierte in Sub- und Gegenkulturen,
die weitgehend dieselben politischen Ansichten teilten.39 Ton Steine
Scherbe „provides a richer understanding of the radical left-wing scene in West
Berlin at a key moment of transition from the student movement of the 1960s to the
anarchist and terrorist scenes of the 1970s”40. Genau auf diese Hausbesetzer und
Anarchoszene, von der die Agitrock-Band ein Teil war, lässt sich ein genauerer
Blick werfen. In den 60ern war ein vollzogener Wertwandel durchaus bemerkbar,
da die junge Generation die linke Szene und die westdeutsche Gegenkultur prägte
37 Buck, Jutta: Ton Steine Scherben – Keine Macht für Niemand. In: Bayerischer Rundfunk 2008.
(23.09.2025)
38 Vgl. Siegfried, Detlef: 1968. Protest Revolte Gegenkultur, Stuttgart 2018, S.8ff.
39 Vgl. Trinius, Stefan: Die 68er- Bewegung. In bpb 2007. (20.09.2025)
40 Brown, T. S., a.a.O., S.1
10
und es folglich zu sozialen und politischen Veränderungen kam. Entgegen der Annahme
vieler ist es aber nicht korrekt zu behaupten, dass nur die junge Generation
an der Gegenbewegung mitgewirkt hätte, da bekanntermaßen „diese Jugendbewegung
für jede Art von künstlerischen Avantgardismen und intellektuellen Radikalismen
[…], den langen erträumten Resonanzboden“41 bot. Dennoch dürfe man laut
Detlef Siegfried nicht von einer „schichtübergreifend rebellischen Haltung der ganzen
Generation“42 sprechen. Das Verhältnis zur Elterngeneration war bei den meisten
Jugendlichen in diesen Szenen angespannt und ein Rückzug ins Private nicht
nur aus diesem Grund schwer vorstellbar.43Zusätzlich ließ die Wohnqualität der damaligen
Mittelschicht vor allem in Großstädten zu wünschen übrig, weil besonders
die Mieten 1972 sehr hoch waren.44 Für die Jugendlichen sei die Lebenslage und
das Freizeitangebot sehr ärmlich und monoton gewesen. Dadurch „entstand in kurzer
Zeit eine Bewegung von Hausbesetzungen und Gründungen autonomer Jugendzentren“.
45 Das Album „Keine Macht für Niemand“, in dem Stücke wie der „Rauch-
Haus-Song“ oder „Wir müssen hier raus“ enthalten sind, entstand im Kontext der
linken Bewegung und sollte der Hausbesetzer-Szene eine hörbare Stimme geben.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass sie zugleich selbst Teil der Hausbesetzerszene
waren, womit sie ihrer Musik eine zusätzliche Authentizität verleihen
konnten. Das bestärkte zeitgenössische gesellschaftliche Rezeption, da die Scherben-
Songs revolutionäre Kräfte hatten. Bernard Käßner, Zeitzeuge und enger
Freund der Bandmitglieder von Ton Steine Scherben untermauert dies, indem er
berichtet, dass Konzerte der Scherben häufig unmittelbare politische Aktionen nach
sich zogen:
„Die Scherben haben halt gespielt, zwei Stunden alle möglichen Songs und
dann wurden von dem oberen Geländer Flugblätter runter geschmissen und
wurde gesagt, wir gehen alle nach Kreuzberg jetzt und wollen das Bethanien
besetzen. […]. Wir waren drei-, vierhundert Leute und sind dann in das Haus
eingedrungen. Und dann kam der Stadtrat Beck, der war auf Jugendarbeit gut
zu sprechen. […]. Der hat dann das soweit angeordnet und hat gesagt, die
Leute bleiben erstmal drin.“46
41 Koenen, Gerd: Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2007, S.81
42 Siegfried, D., a.a.O., S.45
43 Vgl. Siegfried, D., a.a.O., S.46f.
44 Vgl. Rudolf,A., a.a.O., S.72f.
45 Seidel, Wolfgang: Wir müssen hier raus!. Krautrock, Free Beat, Reeducation, Mainz 2016, S.26
46 Palutzki, J., a.a.O.
11
Noch Jahrzehnte später bleibt die Wirkung der Arbeit von Ton Steine Scherben
spürbar. Die Musikerin Christine Rösinger beschreibt, wie das Stück zu einer prägenden
Lebenserfahrung wurde:
„Ich habe gedacht, jetzt musst du dein Leben ändern. Wo ist hier raus? Wegziehen
aus dem Badischen, am besten nach Berlin. Du musst hier raus.“47
Für sie ist das Lied „Wir müssen hier raus“ schon lange zu einer Begleitung im
Leben geworden und ist bis heute Ausdruck von Enge sowie der daraus folgenden
Befreiung und dem Aufbruch.48 Politische Anschlussfähigkeit beweist Ton Steine
Scherben immer noch, da z.B. Kapitalismuskritik nach wie vor virulent ist und
Werke der Band deshalb regelmäßig an 1.Mai Demonstrationen gespielt werden.
2.1.3 Zentrale Motiv: Rebellion gegen Stillstand
Das zentrale Motiv von „Wir müssen hier raus“ ist die Rebellion gegen gesellschaftlichen
Stillstand. In der Analyse stellt man fest, dass die Strophen diese Erfahrung
zeigen: Der Vater verkörpert Resignation und Flucht in Alkohol, während der Alltagstrott
und schlechte Wohnungsverhältnisse soziale Restriktionen verbildlichen,
die Perspektivlosigkeit aufzeigen.
Dagegen rebelliert Ton Steine Scherben, indem sich in ihren Werken die wichtigste
Message, nämlich die Forderung einer Veränderung im Privaten sowie im Politischen,
klar und eindeutig herauskristallisiert.
„Die Stones, Ton Steine Scherben und Pink Floyd, sie alle haben die Welt
eine Zeit lang durchaus im neulinken Sinne verändert - und zwar, weil es
ihnen gelang, den Geist ihrer Zeit in musikalische Formen zu fassen. Durch
ihre Musik erreichte der Geist der Rebellion auch die Herzen jener Menschen,
die in der tiefsten Provinz lebten - fernab von den politischen Auseinandersetzungen
dieser Tage. So konnte sich auch der Seppl aus Niederbayern oder
der Hans-Otto aus Ostfriesland ein paar Wochen lang als Straßenkämpfer fühlen.“
49
Musik entwickelte sich dementsprechend in den 1960er und 70er Jahren von der
ZDF-Hitparade hin zu einem zentralen Element der politischen Selbstidentifikation.
50 Einzigartig bei politischer Musik von Ton Steine Scherben war nicht nur das
gesungene Wort, sondern die gesamte Erscheinung, welche durch ein Zusammenspiel
aus musikalischer Performance und dem langhaarigen Erscheinungsbild der
47 Rösinger, C., a.a.O.
48 Vgl.ebd.
49 Schmidt-Salomon, Michael: „Die Verhältnisse zum Tanzen bringen…“. In: Chlada, Marvin u.a.: Alles
Pop? Kapitalismus und Subversion 2003. (17.09.2025)
50 Vgl. Schuster, B., a.a.O., S.20
12
Künstler geprägt war. Auf diese Weise wurden auch private Themen wie familiäre
Konflikte, Sexualität und Arbeit zu politischen Themen. Die Band schafft es also
nicht nur den Zeitgeist widerzuspiegeln, sondern zugleich auch aktiv mitzuprägen
und Jugendliche zu politisieren. Schlussendlich waren es „[m]agische Songs von
revolutionärer Kraft“ 51 ,die aus als „Gammler“52 diffamierten Jugendlichen, zu
hochpolitisiertem Bürger machten.
2.2 „Eisern Berlin“ – Spreegeschwader
Im Folgenden wird nun „Eisern Berlin“ von den Spreegeschwader vergleichend
herangezogen. Für die Analyse ist es nicht erforderlich, sämtliche Strophen detailliert
auszuführen, da sich bereits die erste Strophe, ein Teil der zweiten Strophe und
der Refrain als hinreichend erweisen, um zentrale Motive und inhaltliche Muster
aufzuzeigen. Musikalisch findet man ein schlichtes Strophe-Refrain-Schema und
eine reduzierte Grundtonmelodik. Wie Thomas Meyer feststellt, wirkt diese
„Grundtonmelodie im […] oft eintönig […]“. Das kann jedoch
durch viele Wiederholung und der Gestaltungsweise des Sängers relativiert werden.“
53 Eine solche Relativierung findet hier ebenfalls statt: Ein gebrüllter, fast
sprechgesangartiger Vortrag, transportiert die Aggressivität des Textes. Dennoch
wirkt das Werk sehr akustisch und erinnert in Teilen an Folk-Rock. Die Instrumentierung
bleibt minimalistisch, beschränkt auf Gitarre, Bass und Schlagzeug,
wodurch ein marschartiger, gleichmäßiger Rhythmus erzeugt wird. Der Song
knüpft an die Fankultur und lokalen Stolz an, besetzt diese Themen aber ideologisch
und knüpft damit an die Strategie des Rechtsrock der 1990er Jahre an, in dem politischen
Themen mehr Aufmerksamkeit geboten wurden.54 Dies wurde mithilfe subtiler
Kampfmetaphern sowie Feindbildern bewerkstelligt. Außerdem rückten
rechtsextreme Skinhead-Szene und organisierter Neonazismus enger zueinander.55
Insgesamt verdichtet sich das Stück zu einer leicht konsumierbaren Kampfhymne,
deren Raffinesse gerade in der formalen Schlichtheit liegt.
51 Rösinger, Christiane: Magische Songs von revolutionärer Kraft. 50 Jahre Debütalbum von Ton Steine
Scherben. In: Deutschlandfunk Kultur 2021. (14.09.2025)
52 Farin, Klaus: Gammler vs Provos. In: bpb 2010. (14.09.2025)
53 Meyer, Thomas: „Unser Leben heißt kämpfen bis zum Tod“ - Rechtsrock als Message-Rock. In: Susanne
Binas (Hrsg.): PopScriptum 4 - Rechte Musik. Berlin 1995, S. 51f
54 Vgl. Flad, Henning: Trotz Verbot nicht tot. Ideologieproduktion in den Songs der extremen Rechten. In:
Jan Raabe (Hrsg.)/ Christian Dornbusch (Hrsg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien.
Münster 2002, S. 96
55 Vgl. Henning, F. u.a., a.a.O., S.96
13
2.2.1 Inhaltliche und rhetorische Analyse
In der ersten Strophe wird Berlin personalisiert und als kämpfende Stadt dargestellt:
„Berlin, du stehst noch immer in der Schlacht“ (V.1). Hier tritt diese Personifikation,
zum einen als „Imagination und Überhöhung eines Kollektives, das man sich
als homogene Gruppe vorstellt und sogar per ‚Du‘ ansprechen kann“56, zum andern
auch als Akteur Volk gegen eine angebliche „fremde Übermacht“, deutlich hervor.
Die „fremde Übermacht“ (V.2) symbolisiert die Juden und aufgrund des Ausdrucks
„noch immer“ (V.1) wird zunächst suggeriert, dass es in Deutschland schon immer
Migration gab. Der Logik der rechtsextremen Szene nach wird Migration jedoch
erst ab den 1960ern ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, weshalb „Ausländer“
als Feindbild nicht in Frage kommen.57 Die Strophe greift fast alle klassischen
Feindbilder der Szene direkt mit der Metapher der „Schlacht“ (V.1) des Kollektivs
auf - Rassismus58 („Multikultikram“ (V.5)), Antikommunismus59 („Kommunistenstaat“
(V.4)) und auch den Antisemitismus 60(„fremde Übermacht“ (V.2)). Das Topos
der „Dummheit und [des]Verrat[s]“ (V.3) evoziert eine Art „Kadavergehorsam“
61, was zeigen soll, dass bedingungslose Loyalität gegenüber der Szene der
einzige legitime Weg sei. Es entsteht unmittelbar eine Assoziation einer Art „Volksgemeinschaft“,
wie sie von der NSDAP (1933-1945) propagiert und totalitär durchgesetzt
wurde. Die letzten zwei Verse der Strophe (V.7-8) spielen auf die Schlussstrophe
an, welche nach dem Refrain analysiert wird.
Der Refrain (V.9-11) beginnt mit der mehrfachen Wiederholung von „Berlin - eisern
Berlin“ (V.9-11), womit ein starkes Gemeinschaftsgefühl erzeugt werden soll.
Durch die mehrfache Repetition lässt sich ein Propaganda- bzw. Parolen-Charakter
erkennen, der der Schlussparole “Sieg Heil“ am Ende von Hitlers Reden ähnelt.62
Das Spreegeschwader den bekannten Fan-Gesang „Eisern Union“63 vom Verein
1.FC Union in „Eisern Berlin“ (V.9) transformiert, zeigt wie rechtsextreme Bands
auf bereits etablierte Symbole mit hohem Wiedererkennungswert zurückgreifen,
56 Henning, F. u.a., a.a.O., S.99
57 Vgl. Henning, F. u.a., a.a.O., S.100
58 Vgl. Kural, Mahmut: Rechtsrock. Einstiegsdroge in rechtsextremes Gedankengut? Saarbrücken 2007,
S.43
59 Vgl. Henning, F., u.a., a.a.O., S.116
60 Vgl. Mahmut,K. ,a.a.O., S.52 f.
61 Vgl. Henning, F. u.a., a.a.O. S,96
62 Vgl. Weber, Marcel: Gedanken zum Phänomen Wiederholung. In: Beitrag zum Kolloquium der Schweizerischen
Gesellschaft für Symbolforschung 2011. < http://www.symbolforschung.ch/wiederholung.
html> (10.09.2025), S. 5
63 Birr, Dieter: Eisern Union: Die PUHDYS kommen o.J..
(12.09.2025)
14
um in der Hooliganszene Anschlussfähigkeit zu kreieren. Dadurch gelingt es rechtsextreme
Inhalte in eine vertraute Form übergehen zu lassen und die Szene stärker
an Alltagskulturen zu knüpfen. Den Erfolg dieses Ansatzes sah man „[a]m 8. April.
1989 grölten im Bereich der Berliner Jannowitzbrücke Hooligans des 1. FC Union
»Deutschland den Deutschen«, »Ausländer raus« und »Ausländer vertreiben – Nazis
bleiben«“64. Dieser Bericht zeigt die ideologische Anschlussfähigkeit, womit
deutlich wird, wie Fußball- und Jugendsubkulturen teilweise mit neonazistischen
Milieus verschmelzen.65
Die übrigen Feindbilder der Rechtsrock-Szene finden auch ihren Platz, da der ganze
„Dreck und Abschaum“ (V.12) stellvertretend vor allem für Ausländer und Punker
bzw. Antikapitalisten stehen. Es wird ein Bild der Stadt gezeichnet, das krank von
diesen ist, dadurch wird mit dem Vergleich „eine Stadt wie im Fieberwahn“ (V.14)
mit hyperbolischem Charakter und der im 1. Vers abwertenden Metapher ein typisches
„Überfremdungs- und Untergangsszenar[io]“66 geschaffen. Ebenfalls typisch
für die Rechtsrock-Szene ist es, Ressentiments mithilfe von einfachem Schwarz-
Weiß-Denken zu instrumentalisieren. Im vorliegenden Lied werfen sie den Politiker
vor nur zu schwafeln und nix zu tun (Vgl. V. 14). Dieselben Feindbilder, die auch
in Klatschpressen und politischen Reden genutzt werden, finden sich somit häufiger
in Rechtsrock-Liedern. Dazu gehören beispielsweise „Linke, Ausländer, die ‚unser
Sozialsystem‘ missbrauchen, Drogenhändler, Sexualstraftäter“67. Durch Vorurteile
eines Großteils der Bevölkerung gewinnen sie an Anschlussfähigkeit.68
Rechtsextreme weichen bei der Radikalisierung, den Feindbildern und ihren violenten
Lösungsansätzen entscheidend vom Mainstream ab So auch Spreegeschwader,
welche die Vorstellung der Befreiung von Berlin (Vgl. V.25) mit NS-Nostalgie
und dem Straßenkämpfer-Motiv69 untermalt. Unverkennbar lässt diese Strophe an
den 30. Januar. 1933 erinnern, an dem Hitler-Anhänger mit Fackeln durch das Brandenburger
Tor marschierten und die Machtergreifung feierten. Daher wird auch in
64 Waibel, Harry: Immer wieder Eisern Union. In: jungle.world 2021. (08.09.2025)
65 Wiese, René: Gewalt, Hooligans und Rechtsradikalismus: „rowdyhafte“ Jugendliche im DDR-Fußball.
In: IM OBJEKTIV DER STAATSMACHT o.J. (5.09.2025)
66 Steimel, Ingo Heiko: Musik und die rechtsextreme Subkultur, Dissertation, Philosophie, Aachen: Rheinisch-
Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, S.378
67 Henning. F. u.a., a.a.O., S.121
68 Vgl. ebd.
69 Im Rechtsrock fungiert das Bild des Straßenkämpfers als Symbol einer militanten Männlichkeit, die Aktionismus,
körperliche Stärke und Gewaltbereitschaft verherrlicht und das handelnde Wir über das reflektierende
Individuum stellt.
15
der ersten Strophe ein „Schein“ (V.7) erwähnt, welcher in diesem Kontext bewusst
diese Anspielung untermauert.
Damit bündelt „Eisern Berlin“ die zentralen rhetorischen Strategien des Rechtsrock.
Dazu zählen Kollektivbeschwörungen, NS-Bezüge, einfache Parolen und
klare Feindbilder. Diese Feindbilder, so betont der Professor für Sozialpsychologie
Stefan Stürmer seien „soziale Konstruktion“.70 Gerade deshalb entfalten sie besondere
Wirkung und transformieren Lieder zu ideologischen Kampfhymnen.71
2.2.2 Historischer Kontext und gesellschaftliche Rezeption
In einer Studie im Oktober und November des Jahres 1991 befragte das Institut für
Familien- und Kindheitsforschung (IFK) an der Universität Potsdam in einer Feldstudie
1644 Schüler und Auszubildende zwischen 14 und 18 Jahren, ob für sie die
Aussage „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ zutrifft. Dabei stimmten
41,5% zu und 25,8% gaben keine Meinung an, die Übrigen stimmten nicht zu.72
Dieses Ergebnis katapultiert direkt ins Stimmungsbild vieler Jugendlicher nach dem
9. November. 1989. Rechts zu sein hatte für viele Jugendliche noch keinen stigmatischen
Charakter, sondern galt vor allem als Trend und Ausdruck von Devianz,
welcher zahlreiche Mitläufer und Provokateure in die Szene zog. Insbesondere
muss erwähnt werden, dass es neonazistische Gruppen verstanden, die entstehende
subkulturelle Skinhead-Szene zu infiltrieren. Ausdruck der Problematik von rechtsextremer
Gewalt nach der Wiedervereinigung ist Hoyerswerda (1991), Rostock-
Lichtenhagen (1992) und Mölln (1992). Höhepunkt dieser Angriffe auf Migranten
war Solingen, als in der Nacht vier rechtsextreme Jugendliche ein Haus von türkischstämmigen
Einwohnern in Flammen setzten. Dabei wurden fünf Frauen und
Mädchen ermordet und weitere 14 Angehörige verletzt.73 Es muss festgehalten werden,
dass an all diesen Taten Jugendliche beteiligt waren. Doch warum fanden so
viele Jugendliche ihren Weg in den rechten Milieus? Neben den bereits erwähnten
gut organisierten neonazistischen Gruppen sowie dem Trend, rechts zu sein, welche
bereits Gründe für den Rechtsruck darlegen, besteht die folgende Dynamik: „[D]er
70 Reitz, Michael: Manuskript radio Wissen. Feindbilder - Psychologie der Dämonisierung. Bayern 2, S.1
71 Vgl. ebd.
72 Vgl. Kühn, Horst: Jugendgewalt und Rechtsextremismus. In: Hans-Uwe Otto(Hrsg.)/ Roland Merten(
Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch
Berlin 1993, S.268
73 Vgl. Schilling, Thorsten: Vor 30 Jahren: Rechtsextreme Ausschreitungen in Hoyerswerda. In: bpb 2021
(1.10.2025)
16
Brandherd entzündet sich im Kern unserer Gesellschaft“74, da Sozialisationsdefizite
und eine gewisse Orientierungslosigkeit Jugendliche ein Bezugssystem vermissen
ließen. Dies führte dazu, dass sie rechte Ideologien aufgriffen. Gerade in der gesellschaftlichen
Umbruchsituation im Osten Deutschlands zur Zeit der Wiedervereinigung
wirkten extreme Ideologien als Nährboden für Jugendliche mit Orientierungskrise.
Der Verlust tradierter Orientierungssysteme, autoritäre Prägungen, die Erziehung
zum Hass gegen Klassen sowie die pluralistisch-liberalen Werte, machten
Rassismus zum Mittel der Selbstaufwertung.75 Die Attraktivität des Rechtsextremismus
für Jugendliche lag nach persönlicher Orientierungslosigkeit nicht zuletzt
in den einfachen Deutungsmustern. Besonders sichtbar wurde dies in der Skinheadszene,
die vielen Jugendlichen eine Ersatzgemeinschaft bot und deren Erscheinungsbild
der „Glatze“, nach außen Protest und Provokation verkörperte, nach innen
jedoch klarer Zugehörigkeit, auch wenn die Szene selbst heterogener war. Der
Begriff Skinhead wird jedoch in dieser Arbeit bewusst nicht gleichbedeutend mit
dem Rechtsradikalismus benutzt, denn das „Zauberwort ‚Skinheads‘“76 im Kontext
von Rassismus und Gewalt bot eine bequeme Möglichkeit für die Gesellschaft, sich
eine antifaschistische Haltung zu zumaßen, ohne strukturellen Rassismus zu thematisieren.
77 Dass die gesellschaftliche Mitte vor allem durch Politik in den 80er
und 90er Jahre immer mehr der extrem Rechten nähert, bedarf nur einen Blick auf
die Rede des Innenminister Friedrich Zimmerman im Jahre 1982 mit folgenden
Worten: „Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl
der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die
großen Volksgruppen betrifft.“78 Auch in den 90er Jahren war besonders der Asylkompromiss
1993, der das Grundrecht auf Asyl massiv einschränkte, in den Medien
und der Politik von Schlagworten wie Asylantenflut oder Asylbetrüger umgeben.79
Dieses Klima signalisierte Jugendlichen in rechter Umgebung, dass ihre Ressentiments
gesellschaftlich Anklang finden oder sogar geteilt werden. Damit werden rassistische
Cliquen bestärkt und zu einem Resonanzboden für rechtsextreme
74 Vgl. Seidel-Pielen, Eberhard: Rechtsradikalismus: (k)ein ostdeutsches Jugendphänomen? In: Hans-Uwe
Otto (Hrsg.)/Roland Merten (Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen
Umbruch. Heidelberg 1993, S.365
75 Vgl. Eberhard, S.P. u.a., a.a.O., S.367
76 Eberhard, S.P. u.a.,a.a.O., S.373
77 Vgl. ebd.
78 BT-PiPr. 10/5, S220
79 Vgl. Bonfadelli, Heinz: Rundfunk, Migration und Integration.: In: Tobias Eberwein(Hrsg.)/Daniel Müller(
Hrsg.): Journalismus und Öffentlichkeit. Eine Profession und ihr gesellschaftlicher Antrag Wiesbaden
2010, S.183
17
Jugendkulturen. Auch Alltagsrassismus, insbesondere die Feindbilder, welche im
Rechtsrock aufgegriffen werden, werden zudem regelmäßig in Boulevardblättern,
aber auch in seriöseren Zeitungen aufgegriffen. Auch nach Razzien, Beschlagnahmungen
und Verbote in den Jahren 1992-1994 etablierte sich die Szene, das Zeigen
vor allem die Jahre 1999 und 2000.
Rechtsrock wirkt in den 1990er Jahren als Affekt- und Bindungsverstärker. Am Beispiel
Landser, einer Rechtsrock-Band, zeigt, sich wie Musik in Cliquen-Settings,
häufig in Kombination mit exzessiven Alkoholkonsum, zum Soundtrack gemeinsamer
Rituale führte. Beispielsweise am 22. August 1999 als zwei Männer vietnamesischer
Herkunft fast zu Tode getreten wurden und dabei lautstark der Landser Refrain
„Fidschi, Fidschi, gute Reise“80 herumposaunt wurde.81 Der dunkelhäutige Adriano
Alberto lief am 12. Juni 2000 drei betrunkenen Neonazis im Dessauer Stadtpark
in die Hände, während sie Landser, unter anderem auch das Afrika-Lied hörten.
Auch er wird zu Tode getreten.82 In der Urteilsbegründung gegen die Täter von
Alberto A. heißt es mündlich: „Der Ungeist des Afrika-Lied entfaltet seine Wirkung.“
83 Es kam zu einer Novität. Ein deutsches Gericht urteilte über den Zusammenhang
zwischen einem neonazistischen Tötungsdelikt und Musik.84 Refrains mit
simplen Freund-Feind-Schemata portraitierten Gewalt als legitime Selbstbehauptung
der Gruppe. Rechtsrock entfaltete sich zudem nicht nur im privaten Konsum,
sondern auch in der Veranstaltungskultur. Konzerte wie im Club 88 oder Gedenkfeiern
am Todestag von Ian Stuart Donaldson85, gaben Räume, in denen Musik, Alkohol
und Parolen zu kollektiven Bräuchen verschmolzen. Gerade die gemeinschaftsbildenden
Inszenierungen jener Veranstaltungen lieferten dabei den Soundtrack
einer Jugendkultur, die als Substitut für Jugendzentren diente sowie Zugehörigkeit,
Abgrenzung und zugleich Radikalisierung auf allen Ebenen förderte.
80 Regener, Michael: Xenophobia. In: CLIGGO UG o.J.. (16.09.2025)
81 Vgl. Weiss, Michael: Deutschland in September. Begleitmusiker zu Mord und Totschlaf. In Jan Raabe
(Hrsg.)/ Christian Dornbusch (Hrsg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Münster
2002, S.63
82 Vgl. Weiss, M. u.a., a.a.O., S.64
83 Bischoff, Norbert: Albert Adriano. In: Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen- Anhalt o.J..
(17.09.2025)
84 Vgl. Weiss, M. u.a., a.a.O., S.64
85 Ian Stuart Donaldson war Frontsänger der englischen Rechtsrock-Band „Skrewdriver“. Mit dieser Band
prägte er in den späten 70ern und 80ern die Neonazi-Szene weltweit. Nach seinem Tod 1993 bei einem
Verkehrsunfall wurde er zur Kultfigur der rechten Szene.
18
2.2.3 Zentrales Motiv: Vergeltung und gewaltsamer Widerstand
Die zentralen Motive von Eisern Berlin und vergleichbaren Rechtsrock-Werken
sind die Ideen von Vergeltung und gewaltsamen Widerstand. Während Ton Steine
Scherben in „Wir müssen hier raus“ Hoffnung und kollektiven Aufbruch vermitteln
will, zeichnet Spreegeschwader das Bild einer Stadt im „Fieberwahn“, die nur durch
Kampf und Härte geheilt werden könne. Wo im Volksmund gilt „Gewalt ist keine
Lösung“, wird sie hier als einziger legitimer Weg zur Befreiung portraitiert, weshalb
man eine eher martialische Sprache mit Begriffen, wie „Schlacht“ oder
„Feinde“, findet.
Das bereits erwähnte Freund-Feind Schema zeigt in Schwarz-Weiß-Logik Gewalt
als notwendigen Akt auf. Vor allem das „Wir“ wirkt identitätsstiftend und versetzt
Jugendliche in eine Art heroische Rolle, z.B. als Straßenkämpfer einer imaginären
Volksgemeinschaft.86
Die Übernahme von Fan-Gesängen wie „Eisern Union“ oder der Bezug auf NSSymbolik
verstärkt diese Kampfmetaphorik, durch gefühlte Gruppenzugehörigkeit.
Vergeltung richtet sich dabei nicht nur gegen Feindbilder, wie z.B. der Türke, der
dem Deutschen die Arbeit entreiße,87 vielmehr gegen eine Gesellschaft, die aufgrund
des „[w]estliche[n] Liberalismus [und] Schuldbewusstsein“88 eine erneute
Konjunktur rassistisch-völkischer Denkmuster verhindert.89
Rache ist hier nicht nur Vorwand für Gewalt, sondern ideologischer Kern der Szene.
Durch Verhöhnung und Gewaltverklärung wird die eigene Perspektivlosigkeit kompensiert.
Hass und Vergeltung dienen so nicht mehr nur politischer Zielsetzung,
sondern eher zum Selbstzweck rechtsextremer Gruppen.
2.3 Vergleich der zentralen Motive und ihre Dynamik
Nach separater Betrachtung und Analyse der beiden Lieder werden im Folgenden
zentrale Motive und ihre Dynamik untersucht.
86 Vgl. Jaschke, Hans-Gerd: Rechtextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe Positionen Praxisfelder,
Heidelberg 2001, S. 126
87 Arpe, Jens-Uwe: Du Bist Stolz. In: CLIGGO UG o.J.. < https://music.cliggo.com/artist/Kraftschlag/album/
Trotz_Verbot_nicht_tot> (16.09.2025)
88 Vgl. Steimel, Ingo, a.a.O., S.297
89 Vgl. Oberndörfer, Dieter: Deutschland ein Mythos?. Von der nationalen zur post-nationalen Republik. In
Yves Bizeul(Hrsg): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Nationale Mythen
und Rituale der Republik Berlin 2000, S.180
19
2.3.1 Gemeinsamkeiten als Ausdruck politischer/jugendkultureller Radikalisierung
Beide Fallbeispiele machen bewusst, dass Musik in der Gesellschaft, besonders in
Jugendkulturen, als Katalysator für subjektiv empfundene Gefühlszustände, Affiliation
und Handlungsbereitschaft wirkt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der Parolen
Charakter und die „Wir“-Identität, die akustisch verdichtet werden. Inhaltlich transformieren
die Musikstücke private Erfahrungen, wie Beziehung, Arbeit und Orientierungslosigkeit,
in politische Thematiken. Damit wird Anschluss an verschiedene
Lebenslagen generiert, wie auch für Grünen-Politikerin Claudia Roth auf politischer
Ebene feststeht: „[darf Politik] sich nicht von den individuellen Schicksalen
lösen, sonst wird […] [sie] zu kalter Technokratie“90
Historisch spiegeln die Songs jeweils Momente von Verdichtung gesellschaftlicher
Spannung wider: Bei Ton Steine Scherben knüpfen Sound und Texte an die 68er,
die Ostpolitik, den Wertewandel, die Wohnungsnot und die Politisierung urbaner
Milieus an. Die Band nahm Impulse der 68er auf - von Protest gegen Autoritäten
bis zu alternativen Lebensformen - und gab so der linksalternativen Szene eine eigenständige
musikalische Stimme.91
Im Gegensatz dazu stehen die 1990er, wobei Rechtsrock zwischen der Vereinigungskrise
Deutschlands, dem Asylkompromiss und Anschlägen, zum Bindeglied
jugendlicher Szenen wurde. Dabei kursieren insbesondere in Skinhead- und
Hooliganmilieus Feindbilder, die z.B. mit Mitsingparolen und Konzerten bestärkt
wurden. In beiden Fällen fungiert die Musik damit nach Dr. Ute Canaris als „Begleiterin“
des Zeitgeistes bzw. Soundtrack einer Szene.92
Gemeinsam ist den Liedern eine Affektlogik. Starke Emotionssteigerung durch
rhythmische Wiederholungen und Mitsingpassagen schafft ein unmittelbares Teilhabegefühl.
93 Im linken Kontext erscheint dies als Revolution und Emanzipation,
im rechten als Abgrenzung und Härte. Der Mechanismus bleibt jedoch gleich. Es
resultiert eine Affektbündelung, welche zum Wir-Gefühl führt, was wiederum zu
einem Handlungsimpuls motivieren kann.94 Dass „[d]ie Ideologie (…) das ‚Leben
90 Roth Claudia: Das Politische ist Privat. Erinnerungen für die Zukunft, Berlin 2006, S. 272
91 Vgl. Brown, T. S., a.a.O., S.10f.
92 Vgl. Canaris, U., a.a.O., S.25
93 Fischer, Jörg: Über den Umgang mit Musik, Inauguraldissertation, Philosophie, Berlin, Freien Universität
Berlin, S.351
94 Rötter, Günther/ Reinhardt, Jan: 12. Musikpsychologische Grundlagen der Funktionalen Musik. In: Steffen
Ronft(Hrsg.): Eventpsychologie. Veranstaltungen wirksam optimieren: Grundlagen, Konzepte, Praxisbeispiele.
Wiesbaden 2021, S. 253-266
20
in Szenen‘ [prägt]“95, trifft definitiv ebenfalls auf beide zu. Denn seien es Konzerte,
kollektives Mitsingen oder symbolische Codes, sie verbinden Emotionen und Politik
zu einem Gemeinschaftserlebnis. Schließlich finden sich, trotz gegensätzlicher
politischer Ausrichtung, Gemeinsamkeiten bei beiden Liedern. Dazu gehören vor
allem klare Gegensatzbildungen, ausgedrückt durch „Wir“ gegen die Feindbilder
bzw. das System, prägnante Schlagworte und offene Projektionsflächen, die breite
Rezeption in den jeweiligen Szenen ermöglichen. Damit bestätigt sich ein weiterer
der drei Aspekte, nach Dr. Ute Canaris: Musik als „Magd“ der Politik und Werkzeug
politischer Mobilisierung.96
Zusammengefasst radikalisiert politische Musik in beiden Lagern eher durch Form,
Affekt und Kollektivsymbolik, als durch ausführliche Argumente. Zumal die historischen
Konjunkturen den jeweiligen Zündstoff liefern und die Musik in der Gesellschaft
Anstoß zum politischen Handlungsdrang gibt.
2.3.2 Divergenzen in Ideologie und soziokultureller Einbettung
Die Divergenzen liegen primär in Ideologie, Feindbildorientierung, Gewaltbezug,
Kollektivformeln und soziokultureller Einbettung. Die ideologischen Aspekte zeigen
sich wie folgt: Ton Steine Scherben zielt vor allem auf eine universale, auf
Emanzipation zielende Kritik an autoritären Strukturen an, die an den 68ern inspiriert
und aufgeladen von einer offenen Utopie sind. Dagegen führt die Rechtsrock-
Band Spreegeschwader ein völkisches, geschlossenes und aufgeladenes „Wir“ an,
welches Härte, Gewalt und nationalsozialistische Nostalgie hervorruft. Dadurch
lässt sich sagen, dass Rio Reiser und seine Band den Sound einer linken Gegenkultur
verkörpern und Spreegeschwader einen Resonanzraum für Menschen bildet, die
im „Transformationsschock“97 Orientierung suchten und Gewalt und Vergeltung als
Antwort übernahmen.
Auch in der Ziel- und Feinbildorientierung weisen die Lieder entgegengesetzte
Richtungen auf. Ton Steine Scherben formuliert mit „Wir werden es schaffen“ ein
utopisches Inklusionsversprechen und bietet Gemeinschaft sowie Solidarität an, um
eine Alternative zu autoritären Strukturen zu schaffen. Demgegenüber erzeugt
95 Raabe, Jan: Rechtsrock in Deutschland. Funktionen, Entwicklung, zentrale Akteure - Umrisse eines
wachsenden Problems. In: Gideon Botsch u.a.: Rechtsrock. Aufstieg und Wandel neonazistischer Jugendkultur
am Beispiel Brandenburgs. Berlin-Brandenburg 2019, S. 29
96 Vgl. Canaris, U., a.a.O., S.25
97 Schilling Thorsten: In bpb o.J.. (03.09.2025)
21
Spreegeschwader Exklusion, indem „das System“, „Linke“ oder Migranten zum
Feindbild werden, an denen kollektive Identität durch Konfrontation gefestigt wird.
Schlussendlich zeigt sich, dass beide Lieder das Ziel einer Gemeinschaft anstreben,
wobei die Einen die Gemeinschaft als solidarisch-offenes „Wir“, die „Anderen“ jedoch
als homogenes, konfrontatives „Wir“ in Abgrenzung zu den „Anderen“ definieren.
Hiermit zeigt sich die Musik nach Dr. Ute Canaris als „Modell“ möglicher
alternativer Wirklichkeiten, die hier in unterschiedlichen Ausführungen vorliegen.98
Der Gewaltbezug beider Lieder ist völlig verschieden. Während bei Ton Steine
Scherben und somit auch der linken Szene der 1970er eine symbolisch-politische
Mobilisierung, wie mit Hausbesetzungen, alternativen Jugendzentren und sonstigen
Protestaktionen, auf der Tagesordnung stand, verschiebt Rechtsrock die Grenze, indem
Gewalt direkte Legitimität zugesprochen wird. Dies zeigt sich sprachlichen in
Metaphern wie „Schlacht“ oder „Befreiung“ und praktisch in Gewaltausübungen
rechten Cliquen. Gesellschaftlich sind die Scherben, wenn auch erst 15 Jahre nach
ihrem Ende, in der „Neuen Mitte angekommen“99, Spreegeschwader hingegen operiert
im geschlossenen Raum neonazistischer Szenen. Steigerung, Wiederholungen
und Parolen sind Gemeinsamkeiten beider Musikstücke, wobei diese trotzdem zwei
unterschiedliche Wege eröffnen: Emanzipation durch Protestkultur versus Eskalation
durch Rechtsrockmilieus.
2.3.3 Vergleich der Wirkungsgeschichte beider Lieder
„Wir müssen hier raus“ (1972) steht für eine Wirkungsgeschichte, die von Beginn
an als emanzipatorisch gesehen werden kann. Dies lässt sich damit begründen, dass
der Song im Umfeld der linken Proteste und Hausbesetzerbewegung im West-Berlin
der frühen 1970er entstand, in der Ton Steine Scherben Teil war und mit linken,
militanten Gruppen, wie z.B. den Haschrebellen, sympathisierte.100 Da diese Gruppen
zunehmenden Wandel in Aspekten wie Lebensform etc., wie zuvor genannt,
lebten, kann man sie als zunehmend emanzipatorisch bezeichnen, wodurch dann
auch der dort entstandene Song als dies beschrieben werden kann. Der Song greift
die alltägliche Erfahrung von privater Enge auf und überführt sie in kollektive Systemkritik.
101 Die Parolen und das Lebensgefühl, die in den Songs der Band
98 Vgl. Canaris, U., a.a.O., S.25
99 Seidel, Wolfgang: Berlin und die Linke in den 1960ern. Die Entstehung der Ton Steine Scherben. In:
Wolfgang Seidel (Hrsg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, Mainz 2006,
S.71
100 Vgl. Seidel, W. ,a.a.O., S.44
101 Vgl. Kreier, F. , a.a.O., S.134f.
22
verwendet wurden, fanden unmittelbar Anschluss in der linken Szene, was z.B. bei
einem Flugblatt der Haschrebellen auffällt, in dem sich die Botschaft „MACHT ES
KAPUTT“102, aus einem weiteren Song der Band, wieder findet. Somit ist es nicht
verwunderlich, dass der Song schnell in Jugendzentren sowie linken Gruppen zur
Hymne der Rebellion avancierte. Die Wirkung des Liedes zeigt sich weniger in
Chartplatzierung oder medialer Präsenz, sondern eher in der simplifizierten Ästhetik
ihrer Kunst, die Rio Reiser, Frontsänger der Band, selbst beschreibt: „Wir brauchen
keine Ästhetik; unsere Ästhetik ist die politische Effektivität´“103 Diese zeigt
sich in politischen Aktionen der Rezipienten, wie z.B. Demonstrationen, Flugblattaktionen
oder auch Hausbesetzungen.104
Nachdem das Lied wie beabsichtigt aufgegriffen wurde, zeigt sich, dass die Wirkungsgeschichte
weit über 1970er hinaus reicht. Schon in den bereits dargestellten
Rezeptionen in Kapitel 2.1.3 verdeutlichen dies. Besonders eindrücklich schreibt
Robert Kneschke, Ersteller der Seite riolyrics.de: „Mich faszinierte, dass die Texte
der Scherben auch nach drei Jahrzenten nichts an Aktualität verloren haben.“105,
denn „im Schnitt schauen sich täglich 400 Besucher 900 Seiten an“106, wohlgemerkt
im Jahre 2005. Solche fortgesetzten Aneignungen zeigt das Ton Steine Scherben im
kulturellen Gedächtnis der BRD lebendig geblieben sind. Dass ihre Werke immer
noch auf Demonstrationen zu hören sind und in der öffentlichen Erinnerung präsent
sind wie z.B. mediale Formate, etwa der Podcast „Musik ist eine Waffe - Geschichte
von Ton Steine Scherben“107 von radioeins, zeigt ihre Nachhaltigkeit und Reichweite.
Spreegeschwaders „Eisern Berlin“ (1996) wirkte nur innerhalb einer kleinen Szene,
was bewusst durch das exklusive Ansprechen der rechtsextremen Gruppen passiert.
Der Song und Musik im Allgemeinen gilt in dieser Szene als Gemeinschaftsstiftend,
denn vor allem auf Konzerten oder Partei-Veranstaltungen, wie z.B. die von der
NPD, zeigen sie größte Wirkung durch Mitsingparolen und marschartige
102 Schubert, Karl-Heinz: High sein, frei sein, Terror muss dabei sein!!. o.J.. (19.10.2025)
103 Seidel, W., a.a.O., S.71
104 Vgl. Kreier, F. , a.a.O., S.135
105 Casado, Antonio Xavier Merchan: Der Sound der Stunde. Naunyn Ritze revisited. In Wolfgang Seidel(
Hrsg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben Mainz 2006, S.231
106 Casado, A., a.a.O., S.235
107 Meinhold, Philip: Musik ist eine Waffe – Die Geschichte von Ton Steine Scherben. In: ARD-Kultur 2025.
< https://www.ardkultur.de/musik/indie/ton-steine-scherben-rio-reiser-rbb-radioeins-100> (16.11.2025)
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Strukturen.108 Auch eingängige Coverversionen helfen dabei, rechtsextreme Ideologie
weiterzutragen.109 Das betont auch Rainer Erb, als er Rechtsrock Bands nicht
nur als bloße Unterhaltung auffasst, sondern vielmehr als: „opinion leaders eine Art
ideologische Führung aus[üben] und kulturell stabilisierend für die Skinhead-Szene
[wirken].“110 Gerade deshalb bleibt die Wirkungsgeschichte im Subkulturellen verhaftet,
denn öffentlich trat das Lied vor allem durch Abwehrreaktion hervor. Am
10. September. 2007 wurde die CD „Live 2002“, welche auch den Titel „Eisern
Berlin“ enthält erst als jugendgefährdendes Medium indiziert, da sie „den Nationalismus
verherrliche und verharmlose und zum Rassenhass anreize.“111
Die Wirkungsgeschichte von Eisern Berlin bleibt also weitgehend begrenzt, eigentlich
nur auf das Innere der Szene. Doch trotzdem kann man festhalten Texte und
eingängige Melodien fungieren auch für „szenenfremde Jugendliche […] als Einstiegsdroge“
112, dass sie die Hemmschwelle zum Rechtsextremismus senken, die
auch wie bereits erwähnt durch Medien und politische Debatten gesunken werden
können. Nach wie vor besuchen 230 Neonazis die Band „Spreegeschwader“ auf
einem Konzert in Staupitz.113
Die Wirkungsgeschichte von Rechtsrock weist also weniger kulturelle Nachhaltigkeit
auf wie bei Ton Steine Scherben, aber eine Funktion bleibt ihr gewiss, die als
Türöffner um rechtsextreme Ideologie anschlussfähig zu machen.
Der Kontrast macht sichtbar, dass sich Wirkungsgeschichte besonders im jugendkulturellen
Kontext vollzieht. Im Vergleich wird deutlich, dass beide Bands ihre
gegensätzliche Wirkungsrichtung anstreben: Ton Steine Scherben entfaltet eine inklusive
Wirkungsgeschichte, als Motor für eine offene Gegenkultur, Spreegeschwader
hingegen als Katalysator einer exklusiven Radikalisierung. Das Fazit zeigt nun,
weshalb die Betrachtung der Wirkungsgeschichte von zentraler Bedeutung ist, um
die Bedeutung politischer Musik herauszuarbeiten.
108 Vgl. Seeßlen, Georg: Gesänge zwischen Glatze und Scheitel. Anmerkungen zu den musikalischen Idiomen
der RechtsRock-Musik. In: In Jan Raabe (Hrsg.)/ Christian Dornbusch (Hrsg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme
und Gegenstrategien. Münster 2002, S.63
109 Vgl. Mahmut,K. ,a.a.O.,S.9 f.
110 Erb, Rainer: Antisemitismus in der rechten Jugendszene. In Bergmann, Werner(Hrsg.)/Erb, Rainer(Hrsg.):
Neonazismus und rechte Subkultur. Berlin 1994, S.40.
111 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2007 – 1BvR 1584/07 – Rn. (1-
35), < https://www.bverfg.de/e/rk20070910_1bvr158407> (28.10.2025), S.1f.
112 Mahmut,K. ,a.a.O., S.10
113 Müller, Ulrike: RechtsRock im „Alten Gasthof“ in Staupitz. In: AIB 2013. (25.08.2025)
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3 Fazit: Politische Musik: Zusammenspiel von Kontexten, Rezeptionen
und Deutungen statt Ursache-Wirkungs-Prinzip
Politische Musik wirkt nicht im Ursache-Wirkungs-Prinzip. Ihre Bedeutung entsteht
nicht „aus dem Lied heraus“, sondern eher aus einem Zusammenspiel von
Kontexten, Rezeptionen und fortgesetzten Deutungen. Diese Erkenntnis stellt den
eigenen Beitrag dieser Arbeit dar. Erst die Wirkungsgeschichte entschlüsselt, warum
bestimmte Songs eine Art Widerhall politischer Einstellungen von Teilen der
Bevölkerung wiedergeben und diese zudem motorisieren.
Der Vergleich von Ton Steine Scherben und Spreegeschwader zeigt Folgendes:
Beide Werke arbeiten mit Repetition, kollektiven „Wir“-Formeln und Parolen,
beide übersetzen private Erfahrungen und damit auch subjektiv empfundene Gefühlszustände
zu kollektivem Wert, wozu besonders die gemeinsame Affektlogik
beiträgt. Dennoch drücken sie völlig gegensätzliche gesellschaftliche Funktionen
aus. Während Ton Steine Scherben eine Utopie der Befreiung mithilfe einer Rebellion
aller gegen Stillstand fordert, wird bei Spreegeschwader, wie typisch für
Rechtsrock-Bands, zu Vergeltung und gewaltsamen Widerstand gegen Feindbilder
aufgerufen, um eine exkludierende Gesellschaft zu bilden.
Zudem zeigt sich das die Popularität der Lieder nicht in sich selbst begründet ist,
sondern im Zusammenspiel mit ihrem jeweiligen Kontext. Ton Steine Scherben
wirkt im Milieu von Hausbesetzungen, einem linksalternativen Umfeld und dem
Wertewandel der 1970er-Jahre. Spreegeschwader hingegen sprach eine Szene inmitten
der Asyldiskurse, den rechtsextremen Jugendmilieus und dem Vereinigungsfrust
an. Wirkung entsteht, weil politische Musik meist zur Diagnose von zeitgenössischen
gesellschaftlichen Krankheiten wird. Schnelle Heilmittel sind Anschluss
zu den Szenen sowie Szenepraktiken, wie z.B. Konzerte oder Rituale, die durch
Kollektivität gegen genau diese Probleme kämpfen.
Damit bestätigt sich der Befund. Politische Musik ist kein Soundtrack gesellschaftlicher
Prozesse - sie formt diese mit. Deshalb machen viele dieser musikalischen
Werke Spannungen erfahrbar, schaffen Gemeinschaft und können je nach Grundlage
zur Stärkung oder Schwächung demokratischer Teilhabe führen. Entscheidend
ist somit weniger die Botschaft, sondern in welchen sozialen Raum die Lieder Resonanz
erfahren.
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Für die historische Analyse folgt daraus eine eindeutige Konsequenz: Ursache-Wirkungs-
Ketten greifen zu knapp, Wirkungsgeschichte hingegen erklärt, wie Musik
gesellschaftlich wirkt. Diese Erkenntnis markiert zugleich Grenze und Ertrag dieser
Arbeit. Sie offenbart, wie und warum Musik, besonders im historischen Spannungsfeld,
politisch wirksam wird.
4 Von der Barrikade zum Feed - Politische Musik im digitalen Zeitalter
Als Rio Reiser, damaliger Ton Steine Scherben Frontsänger, 1993 sagte: „Damals
war die Jugend auch allgemein links. Jetzt geht der Trend nach rechts und man sieht,
dass die Musik auch dazu taugt.“114 Damit unterstreicht er, dass populäre, politische
Musik keineswegs statisch ist, sondern sich mit gesellschaftlich-politischen Entwicklungen
verändert. Neuerdings beginnt politische Musik, fester Bestandteil sozialer
Bewegungen, sich von der physischen Bühne zu lösen und sich in neue Kommunikationsräume
zu verlagern.115 Von der Barrikade wanderte der Protest in digitale
Medien, beispielsweise in Feeds oder Streams.
Ein exemplarisches Beispiel für die digitale Transformation politischer Musik bietet
Danger Dan mit seinem Song im Jahr 2021 „Das ist alles von der Kunstfreiheit
gedeckt“116. Der Song erreicht über Streamingplattformen und soziale Netzwerke
ein Millionenpublikum, löste mit seiner scharfen Kritik an der Kunstfreiheit und an
Politikern juristische und gesellschaftliche Debatten aus und zeigt somit eindeutig,
dass politische Musik seine Wirkung weniger durch Versammlungen als durch virale
Rezeption entfaltet.117 Daraus folgt, dass politische Musik wirkungsmächtig
bleibt, ihr Einflussort sich aber maßgeblich verändert hat.
Für die Zukunft eröffnet sich daraus ein breites Forschungsspektrum: Welche neuen
Formen digitaler Partizipation entstehen und wie lassen sich wirkungsgeschichtliche
Ansätze auf diese Kontexte übertragen? Inwiefern können digitale Resonanzräume
Formen kollektiver Mobilisierung ersetzen oder verändern? Politische
114 Vens, Hartwig: „Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können.“ Zur Sprache der Scherben.
In Wolfgang Seidel (Hrsg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben Mainz
2006, S.212
115 Vgl. Williams, James: 14. Cassetteboy: Music, Social Media, and the Political Comedy Mash-up. In:
Tames Tofalvy(Hrsg.)/Emília Barna(Hrsg.): Popular Music, Technology, and the Changing Media Ecosystem.
From Cassettes to Stream Basel 2020, S.233ff.
116 Pongratz, Daniel: Danger Dan - Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt (Antilopen Gang). In:
YouTube 2021. (28.10.2025)
117 Vgl. Ott-Alavi Katharina: Das wird man ja wohl noch singen dürfen. In: Goethe Institut 2024.
(28.10.2025)
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Musik bleibt damit ein Medium gesellschaftlicher Verständigung, wobei aber unklar
bleibt, wie sie sich in Zukunft entwickeln und Einfluss nehmen wird.
Anmerkungen
Im Rahmen der Qualifikationsarbeit im Fachbereich Geschichte am Meranier-Gymnasium Lichtenfels hat Finley Schatke 2025 diese Seminararbeit verfasst, welche sich intensiv mit Ton Steine Scherben auseinandersetzt.Die Formatierung hier ist leider etwas wirr, da die Fußnoten nicht korrekt wiedergegeben werden können. Es fehlt im Ende noch das Quellen- und Literaturverzeichnis, das ist in der originalen PDF jedoch vorhanden.



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